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Espresso auf Tablet

Eine klassische Win-Win-Situation

Habe ich es schon gesagt? Seit einiger Zeit arbeite ich zwischendurch als Hilfskellner. Mal etwas anderes als die tägliche Arbeit im Stollen. Nicht den ganzen Tag mit irgendwelchen Zahlen jonglieren oder dem unendlichen, relationalen Datenmodell seine Geheimnisse abringen.

Eine gute Sache, habe ich mir gedacht, als ich meiner Schwägerin zusagte, ihr ab und zu an den Samstagen im Café ihrer Shabbychic-Villa zu helfen. Eine klassische Win-Win-Situation. Sie erhält eine wertvolle Hilfe und ich kann von meinem Berufsstress abschalten. Für mich ist es sowieso auch wichtig, zwischendurch etwas mit Menschen zu machen, statt immer nur mit Zahlen. Das sagt auch mein Therapeut.

Einfach mal abschalten
Wenn ich am Samstagmorgen jeweils die Türe der noch ziemlich leeren Villa öffne, hat das schon fast etwas Meditatives. Alle Sachzwänge des Alltags kann ich am Hintereingang die steile Treppe in den Keller hinunterrollen lassen. Als freier, unbeschwerter Mensch betrete ich die Gaststube. Geniesse die wohlige Wärme der frisch eingefeuerten Kachelöfen. Rieche, wie sich der Duft des frischen Kaffees mit dem sanft süsslichen Wachsgeruch der Kerzen mischt. Mich lacht das knusprige holzofengebackene Brot auf dem Frühstücksbuffet an, das nach der frischen Bauernhofbutter und dem goldig leuchtenden Bienenhonig schreit. Ich kann es richtig hören.

„Wo bleibst du endlich? Es ist schon fast 9 Uhr! Wir öffnen.“ Uups! Das ist aber nicht das Brot, das ruft, sondern meine Chefin, die ihre Morgenmeditation offenbar schon hinter sich hat. „Es gibt viel zu tun.“ Dann also los.

Ohne ein richtiges Briefing läuft nichts
Ohne ein richtiges Briefing läuft auch in der Gastronomie heutzutage nichts mehr. „Du kennst ja alles bestens. Neu steht aber die Registrierkasse, die links vorne war, hinten rechts. Dafür hat unser IT-Fachmann endlich die Tasten der Kasse optimaler programmiert. Nächste Woche schreibt er sie dann auch noch an. Bei den beiden Kaffeemaschinen ist zu beachten, dass die Kaffeebohnen aus dem blauen Sack nur in den roten Behälter links und die aus dem grünen nur in den schwarzen Behälter rechts eingefüllt werden dürfen. Eigentlich alles ganz logisch. Fürs die heisse Milch tippst du entweder links zweimal kurz an oder dann bei der Maschine rechts einmal lang – aber nicht länger als eineinhalb Sekunden, sonst – du weisst ja… Ah, der Getränkeschrank muss unbedingt wieder aufgefüllt werden. Dann brennen noch nicht alle Windlichter auf den Tischen. Im Raum beim Eingang ist für sieben Personen reserviert. Vorstandssitzung. Also nicht stören – aber dennoch regelmässig vorbeischauen. Für die warmen Speisen gehört unbedingt immer ein Tischset unter den Teller. Du findest die Sets in einer der 27 Schubladen des Buffets. Logischerweise in der, die am wenigsten klemmt. Von den anderen solltest du die Finger lassen, besonders dann, wenn es pressiert. Um 11 – vielleicht auch erst um 12 Uhr – kommen drei Stammkundinnen, die sich für die gemütliche Ecke angemeldet haben. Du musst unbedingt den Tisch freihalten. Wenn du etwas falsch tippst, unbedingt sofort den Betrag wieder stornieren. Nimm dann die Taste links oben und bestätige die Aktion mit der Pfeiltaste in der Mitte. Also die mit dem Pfeil nach unten. Auf keinen Fall, die mit dem Doppelpfeil drücken, sonst ist alles weg. Und jetzt muss ich in der Küche.“

Nun ist wenigstens alles klar. Die Basis für eine solide und effiziente Arbeit ist gelegt. Für mich heisst es nun: Klar priorisieren und ja nicht den Blick fürs Ganze verlieren. Genau für solche Momente habe ich vor 15 Jahren das Arbeitstechnik-Seminar absolviert und die Drei-Finger-Methode trainiert. Simpel zu merken: Daumen, Zeigfinger, Mittelfinger. Im Grunde genommen verblüffend einfach. Aber, für was in aller Welt steht dieser blöde Daumen? Egal. Wichtig ist jetzt, das Ganze mit einer positiven Grundhaltung anzugehen. Gut – beginnen wir beim Dringenden und gehen dann sukzessive zum Wichtigen über. Also beginnen wir. Wir? Also ich. Aber mit waaas? Ich fühle mich, wie bei den Französischtests damals in der Sekundarschule. Tausend Wörtchen auf dem Blatt, gähnende Leere im Kopf.

Es ist wirklich gemütlich hier
In solchen Situationen hilft eine kurze Pause. So einen Laden im Schwung halten, das ermüdet und gibt Hunger. Bei einer heissen Schokolade und einem deftigen Käse-Eingeklemmten komme ich allmählich wieder zu Kräften und zu klaren Gedanken. Es ist wirklich gemütlich hier. Auch die Leute sind sehr freundlich. Dort hinten winkt mir immer wieder eine nette, ältere Frau zu, obwohl ich die gar nicht näher kenne. Langsam wird es mir peinlich. Ich winke zurück. Nun ruft sie mir sogar zu. Was? Ob sie und alle anderen im Lokal vielleicht endlich bestellen können? So eine dumme Frage. Klar, können die das. Für das gibt es das Servierpersonal … Mist, das bin ja ich!

Geistesgegenwärtig springe ich auf, schnappe mir ein Bestellblöckchen und zehn Minuten später kenne ich alle Gäste – meine Gäste – und ihre Bedürfnisse. Leider sind nicht alle so freundlich, wie die winkende Dame. Unverständlich, warum es Leute gibt, die an einem friedlichen, freien Samstagmorgen so schlecht gelaunt unterwegs sind.

Mit ein paar federnden Schritten bin ich bereits am Buffet. Nun ist eine klare und zielorientierte Kommunikation gefragt. Mit deutlicher Aussprache lese ich meine logisch strukturierte Bestellliste runter: „Ich bekomme fünf Café crème – einmal ohne Crème, zweimal mit Doppelcrème, dann einen Alpenkräutertee, einen Schwarztee nicht zu schwarz und einen Hagebuttentee nicht zu heiss.“ Danach folgten noch ein paar dieser italienischen Kaffeespezialitäten, die ich entweder falsch schreibe oder falsch ausspreche. Bereits bin ich am Ende der Liste angekommen und schliesse mit: „Und dann wollen noch sieben Gäste ein Croissant dazu.“

Keine Reaktion. Ich schaue von meinem Block auf und stelle mit Schrecken fest: Da ist ja gar niemand! Wer macht denn heute das Buffet? Mist, das bin ja auch ich!

Das perfekte Bild
In solchen Momenten zahlt es sich aus, dass man belastbar ist und sein Handwerk versteht. Wie am Fliessband fülle ich an den beiden Kaffeemaschinen Tassen und Gläser mit dem richtigen Inhalt und reihe sie sauber gruppiert auf dem Buffet auf. Fertig! Ich mustere dieses schöne Bild und schiebe noch die Gläser mit dem leuchtend weissen Milchschaum in die Mitte der dunklen Kaffees. Nun ist es perfekt! Es dokumentiert meisterlich, mit was jeder Gast auf unterschiedliche Art und Weise am Samstagmorgen in unserem Café individuell glücklich wird.

Aber wer hat nun was bestellt? Als routinierter Aushilfskellner kann ich ohne Probleme auf den ersten Blick erkennen, wer einen Espresso und wer einen Café crème bestellen wird. Ganz zu schweigen von den Schalentrinkerinnen. Da muss ich nicht einmal hinsehen. Die erkenne ich an ihrem typischen Schritt. Und erst die Teeliebhaberinnen… Sonst bin ich immer der perfekte Gästeversteher. Aber heute sehen alle gleich aus. Und alle haben einen leicht gereizten Blick. Wenn nur nicht diese Leere in meinem Kopf wäre. Habe ich das mit den Französischtests schon mal erwähnt?

Nun muss eine Lösung her, die für alle das Beste ist: „Leute, alle mal herhören! Ihr wisst ja hoffentlich noch, was ihr bestellt habt. Holt euch euer Zeugs doch rasch selber. Passt aber auf das heikle Geschirr auf und macht keine Sauerei. Ich muss nun in den ersten Stock. Vielleicht hat es dort noch andere Gäste, die ich glücklich machen kann.“

Im ersten Stock ist es ruhig. Niemand ist da, der bereits unruhig auf mich wartet. Erleichtert lasse ich mich neben dem wohlig warmen Kachelofen in den weichen Sessel fallen und lege meine Füsse aufs Tischchen. Wenn du stundenlang auf den Beinen bist, braucht es das zwischendurch.

Die können manchmal ungemütlich sein
Vermutlich muss ich kurz eingenickt sein, aber nun höre ich es deutlich: Mehrmals nacheinander fällt die schwere Eingangstüre ins Schloss. Offenbar läuft das Geschäft im unteren Stock wie geschmiert. Vielleicht schaue ich besser mal nach. Ich kenne unsere Gäste, die können manchmal recht ungemütlich sein. Von den untersten Treppentritten aus sehe ich, wie meine Chefin der letzten Frau in der Gaststube in den Mantel hilft. Danach wendet sie sich mir zu: „Du hast für heute sicher noch andere Pläne, oder? Hier kommen wir – so schätze ich es ein – für den Rest des Vormittags ohne deine Hilfe über die Runden.“

Das überrascht mich, zeigt mir aber auch deutlich, mit welch grosser Übersicht sie ihr Lokal und ihre Angestellten führt. Es kann ihr nicht entgangen sein, dass sich bei mir nach diesem happigen Morgeneinsatz erste Verschleisserscheinungen bemerkbar machen. Meine Chefin und all die netten Gäste lasse ich ungern im Stich, aber meine Mission ist hier fürs Erste erfüllt.

Zufrieden ziehe ich heimwärts. Alles ist perfekt aufgegangen. Ich habe meiner Schwägerin kompetent und mit grossem Elan den Laden geschmissen. Und auch das mit dem Abschalten vom Berufsstress hat wirklich funktioniert. So erholt wie im Moment habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.

Jura

Einer lieben Freundin

Einer lieben Freundin zum Geburtstag

60 Jahre! 60 Jahre, eine Zeitdauer, die ich aus eigener Erfahrung noch nicht ganz überblicken kann, wenn ich auch fleissig daran arbeite. Es ist deshalb sicher nicht an mir, all deine Spuren, die du in dieser Zeit hinterlassen hast, mit salbungsvollen Worten zu würdigen. So quasi die Laudatio für die Vergabe des Awards für „Die bedeutendsten 60 Jahre ever“ zu halten.

Es gäbe zwar einiges hervorzuheben

Es gäbe zwar einiges hervorzuheben, was du organisiert, erkämpft, gegründet, verteidigt, erduldet, ins Leben gerufen, angeleitet, vermittelt oder schlicht und einfach gemacht hast.

Über die 60 Jahre deines Wirkens kann ich also nicht sprechen. Wenn ich aber ein paar Jahrzahlen überschlage, komme ich doch auch auf gut 40 Jahre, in denen wir irgendwie miteinander unterwegs sind. Das isch jo au nid nüt.

Nur ein kleiner Rückblick

Also – wie schon gesagt – keine Laudatio, sondern nur ein kleiner Rückblick. Was mir als Erstes auffällt: Es gab immer mal etwas mit dir zu feiern – sogar für mich als Mann. Dass man die Feste feiern soll, wie sie fallen, ist eine alte Weisheit. Du hast aber immer wieder dafür gesorgt, dass die Feste auch wirklich fallen.

Klar, manchmal wäre dir vielleicht ein schlichterer Rahmen mit weniger Fest-Jubel-Trubel lieber gewesen. So, als wir damals noch an deinem „gewöhnlichen“ 23. Geburtstag in unserem jugendlichen Übermut in deiner Quartierstrasse eine kleine Marschmusikparade für dich abhielten. Manch ein Nachbar muss sich da gefragt haben, was da für eine zugezogen ist.

Neben diesem Ereignis, das bei dir vielleicht schon lange vergessen oder verdrängt ist, gibt es auch vieles, was sicher unvergesslich ist. So z.B. das „Vogelfest“ in der Waldhütte. Sicher auch dein grosses Fest vor 30 Jahren. Dann natürlich euer grandioses Hochzeitsfest. Aber auch die verschieden Familien- und Gartenfeste, an denen ich dabei sein durfte.

Einfach Menschen um dich zu haben

Was aber in meiner Erinnerung am meisten Gewicht hat, sind alle die Eindrücke von besonderen Momenten während den Wochen und Wochenenden im Jura. Du meist mitten in einer angeregt erzählenden und diskutierenden Runde, in der laut und herzhaft gelacht wird. Feiern heisst für dich – so vermute ich es jedenfalls – Menschen um dich zu haben, mit denen du über Gott und die Welt, aber auch über dich selbst reden kannst. Mit denen du lachen oder vielleicht auch weinen kannst. Einfach Menschen um dich zu haben, mit denen du auf dem gleichen Wegstück unterwegs bist.

Deshalb mache ich nun hier einen Punkt, um dir heute, hier und jetzt, nicht noch mehr von dieser dir kostbaren Feierzeit wegzunehmen.

Dein Wegbegleiter

Flieder

Vom Handschlag träumen

Ich sah es ganz genau. Es brauchte nicht mehr viel, bis dem Landratspräsidenten der Geduldsfaden reissen würde. Doch der Redner liess sich durch die immer klarere und missbilligende Körpersprache des Sitzungsleiters nicht beirren. „Es kann doch nicht sein, dass in unserer Gesellschaft für einzelne Gruppierungen Regeln nicht gelten, die zu den Grundwerten unserer Kultur zählen“. Ernstes, gewichtiges Kopfnicken einiger seiner Ratskolleginnen und –kollegen bestärkten ihn darin, mit seinen Ausführungen weiter zu machen. „Gerade die Gleichberechtigung von Mann und Frau sind einer der wichtigsten, wenn nicht sogar der wichtigste Pfeiler unserer westlichen demokratischen Kultur. Der Leitkultur, die auch im unserem Kanton, unserem Baselbiet gilt.“

Nicht schon wieder Therwil
„Stopp! Stopp!“ Nun hatte der Präsident genug gehört. Vehement schwang er sein Ratsglöcklein und unterbrach mit seinem Gebimbel den Redefluss des Gesellschaftskulturkämpfers. „Nicht schon wieder das Thema „Therwil“. Das beschäftigte uns doch schon in den letzten Sitzungen zur Genüge. Alle, die dazu etwas zu sagen hatten oder es immerhin meinten, konnten dort ihre Vorstösse und Voten einbringen. Da gibt es in unserem Rat zurzeit nichts mehr zu diskutieren. Dieses Thema ruht nun bei unserer Bildungsdirektorin.“

Der Redner liess sich damit aber nicht zum Schweigen bringen. „Nein, mein lieber Präsident. Sie missverstehen mich. Ich rede nicht von den zwei störrischen Schülern, die in Therwil ihrer Lehrerin den Handschlag verweigern. Mir geht es um die zwei Bürgergemeinden in unserem Kanton, die ihren Bürgerinnen nicht die Hand reichen und ihnen seit Jahren die Ausübung ihrer Bürgerrechte verbieten. Die Frauen werden am wichtigsten Ereignis des Bürgerjahres – dem Banntag – als nicht würdig erachtet, daran teilnehmen zu dürfen. Einzig beim Auskurieren der Banntagskater ihrer Ehemänner ist ihre Hilfe zugelassen.“

Schwarze Schafe gibt es überall
Lautes Gemurmel machte sich im Landratssaal breit. „Offenbar muss es in Sissach und in Liestal den Verantwortlichen entgangen sein, dass ihre Gepflogenheiten schon lange nicht mehr mit unseren Baselbieter Prinzipien und Ordnungen kompatibel sind. Auch der Landrat, als oberster Wächter über die Einhaltung der gesellschaftlichen Grundwerte sowie der bürgerlichen Rechte und Pflichten in unserem Kanton, hat es offenbar bisher übersehen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Ich fordere deshalb, dass der Regierungsrat ein neues Bürgergesetz ausarbeitet. Dieses soll alle Bürgergemeinden dazu verpflichten, allen ihren Bürgerinnen und Bürgern die Ausübung sämtlicher Bürgerpflichten und die Wahrnehmung aller Bürgerrechte zu garantieren.“

Gerade jetzt, wo es spannend wurde, holte mich das penetrante Piepsen meines Weckers aus meinem Traum auf die Matratze der Realität zurück. Ich hörte nur noch knapp aus der Ferne, dass jemand in den Ratssaal rief: „Braucht es dann für alles ein Gesetz? Wo bleibt unsere Freiheit?“

Schon wieder am Träumen?
Ich setzte mich auf die Bettkante, rieb mir die Augen und wunderte mich über die abstrusen Geschichten, die man so träumen kann, wenn die Nacht lang ist. Nach einigen Sekunden entwirrten sich bei mir allmählich Traum und Realität.

Nein, ein solches Gesetzt braucht es sicher nicht! Zu wichtig sind uns Baselbieterinnen und Baselbietern Freiheit und Gleichberechtigung. Auch in Sissach und Liestal wird es ihnen wie Schuppen von den Augen fallen. Wir leben ja in der Vorzeigedemokratie Schweiz, im freiheitlichen Baselbiet und erst noch im Jahr 2016. Also nicht mehr im Mittelalter.

Das wird sich doch sicher ändern. Ist doch logisch… oder bin ich nun schon wieder am Träumen?

S3

Manchmal übertreibt es die Jugend

Auch mir ist es aufgefallen: Ich schreibe schon wieder übers Alter. Nicht, dass ich persönlich ein Problem damit hätte. Alle werden älter – vermutlich auch ich. Mit welcher Heftigkeit die Alterskeule aber zuschlug, überraschte mich dann doch.

Kürzlich ist es wieder passiert. Der Feierabendzug stand zur Abfahrt bereit. Auch ich hatte meinen Sitzplatz erobert und konnte die Stehplätze andern überlassen. Da stieg auf den letzten Drücker noch ein älterer Mann ein. Ausser Atem von seiner Hetzerei wankte er von Abteil zu Abteil im nun fahrenden Zug langsam auf mich zu. „Es wäre doch nicht mehr als anständig, wenn ihm jemand seinen Sitzplatz anbieten würde“, war mein Gedanke. Sicher das Beste für diesen Betagten und nebenbei auch eine gute Lösung für mich. So würde mir das Dilemma erspart: Anständig sein, den Laptop auf dem Schoss versorgen und aufstehen oder ganz konzentriert in den Bildschirm starren und unanständig unglücklicherweise von allem um mich nichts mitbekommen.

Ich entschied mich für Variante 2

Das Dilemma blieb mir nicht erspart und ich muss leider gestehen, dass ich mich für Variante 2 entschied. Aus meinen Augenwinkeln heraus, sah ich ihn näher und näher kommen – und an mir vorbeigehen, immerhin ohne hilfesuchende Blicke auszusenden, die mein Gewissen noch zusätzlich belastet hätten. Ich hatte es wieder einmal geschafft! Bequem konnte ich mich weiter meinem Laptop widmen. Doch dann die überraschende Wende: Eine junge Frau, die den Mann hatte vorbeigehen sehen, erhob sich und rief ihm nach, ob er nicht sitzen wolle. Als er nicht reagierte, ging sie ihm sogar ein paar Schritte nach und bot ihm den Platz nochmals an.

Der Senior lehnte ab und lehnte nochmals ab. Die ganze Freundlichkeit dieser Frau verpuffte an der Abwehr des Mannes. Ich schüttelte innerlich den Kopf und dachte mir: „Da zeigt sich die heutige Jugend von ihrer besten Seite und dieser Alte kann nicht über seinen Schatten springen und einfach dankend die freundliche Geste annehmen.“

Sportlich, dynamisch und im besten Alter

Ein paar Tage später war bei mir wieder einmal ein Dauerlauf durch den Basler Bahnhof angesagt. Es galt, den Feierabendzug noch zu erwischen. Kein Problem für einen sportlichen und dynamischen Mann im besten Alter, wie ich es bin. Die S3 war wie meistens bis auf den letzten Platz besetzt. So quetschte ich mich in einen der übervollen Eingangsbereiche. Danach schob ich mich vorsichtig Schritt um Schritt ins Wageninnere. Glücklich, eine einigermassen ruhige Stelle gefunden zu haben, suchte ich nach meiner Lesebrille, um auf meinem Smartphone die abendlichen Neuigkeiten abzurufen.

Meine gefühlte Dynamik drang offenbar nicht so richtig nach aussen, denn eine Schülerin, die in ihren „Blick am Abend“ vertieft war, schaute auf, sprang auf und bot mir ihren Sitzplatz ohne zu zögern an. Ich – leicht irritiert – stammelte vor mich hin, dass ich nicht so alt sei, wie ich aussehe. Mein äusserst humorvoller Spruch drang aber nicht so richtig bis zu ihr durch. Sie stand schon im Gang und deutete mit Nachdruck auf den leeren Sitzplatz. Vermutlich hatte sie in einem Pro Senectute-Kurs gelernt, wie man störrischen Senioren zu ihrem Glück verhelfen kann.

Manchmal muss man auch Grösse zeigen

Ich kapitulierte und setzte mich. Auch so kann man Grösse zeigen. Man muss zu seinem scheinbaren Alter stehen – oder sagen wir besser – sitzen. Wobei, was heisst da scheinbares Alter? Die Schülerin hatte ganze Arbeit geleistet. Mit einem Mal fühlte ich mich auch so alt, wie ich nach ihrer Beurteilung aussehen musste.

Irgendjemand muss es der heutigen Jugend sagen, dass man es auch übertreiben kann mit diesem Anstand.

Wasserhahn

Ein Ingenieur blickt immer durch

Ich verstehe ja von vielem nichts. Aber von Technik, da verstehe ich etwas. Nicht umsonst mühte ich mich an der Ingenieurschule – wie die damals noch hiess – ab. Ein Ingenieur ist einer, der weiss, wie der technische Hase läuft. Der findet immer den passenden Knopf, der zieht am entscheidenden Hebel, der rechnet immer richtig und wenn einmal nicht, dann richtig falsch. Mit diesem Durchblick macht jeder Tag Spass in unserer immer komplexeren und technologisierteren Welt.

Alles klar für unseren Hund

Bis zum letzten Jahr. Da ging mir mein ganzes technisches Selbstvertrauen in die Brüche. Und das nicht etwa, weil ich an der Berechnung einer Satellitenflugbahn im Erdorbit scheiterte. Nein, ich verlor den Kampf mit der Sanitärtechnik, die eigentlich gemacht ist für den Alltag. Alltagstechnik,  mit der das Kleinkind umgehen kann, bevor es die ersten Worte spricht. Sogar unser Hund – wenn wir einen hätten – wüsste intuitiv, wie er sie bedienen müsste, um seinen Wassernapf zu füllen.

Nur mich überforderte sie ganz offenbar. Den ersten Knack verpasste mir ein Sanitärdesigner, der herausgefunden hatte, dass es für die Lavabo-User viel hipper ist, wenn sie mit einem einzigen eineinhalb Zentimeter langen Joystick die Wassertemperatur und gleichzeitig die gewünschte Wassermenge regulieren können. Er hatte Recht! Nach der ersten Übungsstunde war mein Fingerspitzengefühl so weit gediehen, dass schon etwas Nass aus dem Hahn floss. Nach einer weiteren Stunde hatte dieses dann sogar eine Temperatur, wenn auch nicht die angestrebte.

Sterne ­­– wie am Kühlschrank

Den zweiten Tiefschlag verpasste mir ein so richtig teures Hotel, das mich für eine einzige Nacht beherbergte. Ein Blick ins Badezimmer liess mein Herz höher schlagen. Alles war ganz schlicht gestaltet. Erleichtert packte ich den äusserst funktionalen Hebel, mit dem ich das Wasser weich und dosiert in die wohlgeformte Keramikschüssel perlen liess. Schön! Nun die Lektion 2: Warmes Wasser. Vergebens suchte ich nach einem Regler. Scharfsinnige Gedanken funkten durch mein Hirn: Läuft das alles mit einer Fotozelle? Braucht es eine warme Handbewegung, um die Mischbatterie zu aktivieren? Oder vielleicht Spracherkennung? „Warmes Wasser! Warmes Wasser!! WARMES WASSER!!!“

Das ernsthaft besorgte Gesicht meiner Frau erschien in der Badezimmertür. Oder gibt’s vielleicht ein Warmwasser-App für die Bedienung via Smartphone, das man auf der Hotel-Homepage herunterladen kann? Ich wollte es nicht wissen und wusch mich mit kaltem Wasser. Am nächsten Morgen sprangen mir die Sterne über der Rezeption in meine Augen. Die sehen aus, wie bei unserem Kühlschrank. Bedeuten die dort nicht ebenfalls: je mehr Sterne umso kälter?

Wir sind ja nicht in der Schweiz

Diese Erlebnisse hatte ich schon fast vollständig verdrängt. Kalt hatte ich auch nicht mehr. In der brütenden italienischen Sommerhitze bezog ich mit Frau und Kindern unseren Maxicaravan auf einem venezianischen Zeltplatz. Alles war vorhanden, was man so braucht: Kochnische, Kühlschrank, Klimaanlage. Als erfahrener Schwachstromcamper wusste ich: Das Ferienglück ist erst dann perfekt, wenn auch alles funktioniert. Wir sind ja nicht in der Schweiz… Deshalb Kontrolle: Kühlschrank, kalt. Gasherd, springt an. Klimaanlage, läuft.

Alles bestens! Alles? Nur noch schnell einen Blick ins Badezimmer werfen. Ich bin beeindruckt. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich eine Duschkabine, ein Lavabo und ein WC in einem ungefähr besenschrankgrossen Raum unterbringen lassen. Aber was sage ich Duschkabine? Duschtraumwelt wäre treffender. Verschiedene Knöpfe waren da, um die zahlreichen unterschiedlichen Düsen in Wand, Boden und Decke spielen zu lassen. Da ich wegen der Hitze sowieso nicht viel mehr als die Shorts anhatte, wagte ich es sogleich, an einem der Knöpfe zu drehen. Nichts! Dann halt ein anderer. Nichts! Aha, dann ist es der Drehschalter hier. Nichts! Auch in allen für mich denkbaren Kombinationen konnte ich keiner Düse und Brause dieser Dusche auch nur einen Tropfen Wasser entlocken.

Mühsam, dass die es nicht schaffen

Nun meldete sich der Ingenieur in mir. Klar, hier ist der Haupthahn für unser Häuschen noch nicht geöffnet. Eine Sicherheitsmassnahme bei diesen leicht improvisierten Wasserzuleitungen. Verständlich, aber dennoch mühsam, dass die es nicht schaffen, einen wirklich funktionierenden Feriencontainer bereitzustellen. Gut, wenn sie es nicht anders wollen, muss halt jemand vorbeikommen und den Haupthahn öffnen.

Fünf Minuten nach meinem Anruf brauste schon das Service-Strandmobil heran. Ein immer freundlicher graumelierter Universaltechniker schwang sich aus dem Wagen, begleitete mich mit seinem leicht müden, wenn nicht schon fast traurigen Gang in den Badebesenschrank. Mit einem leicht mitleidigen Blick griff er zum Haupthebel und liess es brausen. Meine Entschuldigungsversuche kamen nicht wirklich an. Ich hörte nur noch etwas im Sinne von: „Für solche Gäste bin ich ja da.“

Kürzlich überraschte ich meine Tochter zu Hause am Stubentisch, wie sie über farbigen Prospekten mit lächelnden Senioren brütete. „Betreutes Wohnen für Männer über 53! Wir helfen Ihnen, wenn es alleine nicht mehr geht.“

reformierte presse

Gottesdienst als Lustkiller

Die Ausgabe der „reformierten presse“ vom 6. November thematisiert den Bericht zur Visitation 2013-2015 der Reformierten Kirche Baselland. Teile des Kommentars kann ich so nicht stehenlassen. Deshalb mein Leserbrief.

Meinung


Mein Leserbrief in der „reformierten presse“ vom 20. November 2015:

Zu: Tu Gutes und rede darüber! (RP 45)

Gottesdienst als Lustkiller

Die Autoren des Visitiationsberichts der Reformierten Kirche Baselland empfehlen den Kirchgemeinden, sich aktiv um Kircheneintritte und –wiedereintritte zu bemühen. Wie Marianne Weymann hervorhebt, sollen wir Reformierten über das reden, was uns wichtig ist; den Menschen in unserem Umfeld zeigen, was unsere Kirche zu bieten hat.

Ihre Aussage „Wer einen Gottesdienst besucht, wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Kirche nicht von ihrer besten Seite erleben und wenig Lust verspüren, noch einmal zu kommen.“ irritiert mich aber sehr.

Sicher, ich war auch schon in Gottesdiensten, bei denen ich danach froh war, dass ich das dort Gehörte und Erlebte – oder vielleicht auch das Nichterlebte – nur mir erklären musste. Der Umstand, dass ich an diesem Sonntagmorgen wieder niemand Kirchenfremdes zum Gottesdienst eingeladen hatte, sorgte deshalb in solchen Momenten eher für Erleichterung als für ein schlechtes Gewissen.

Stellen wir uns aufs Lichterlöschen ein
Wenn es aber wirklich so ist, dass wir uns für unsere Gottesdienste schämen müssen, werden wir auch mit hochkarätigen Podien und beeindruckenden Konzerten die Überalterung und den Mitgliederschwund nicht stoppen können. Dann stellen wir uns besser auf das baldige letzte Lichterlöschen ein.

In einer lebendigen Kirchgemeinde findet Kirche nicht nur am Sonntagmorgen statt. Viele entscheidende Impulse und Erlebnisse kommen aus den vielen Angeboten an den übrigen sechs Tagen – so auch aus dem hochkarätigen Podium oder dem beeindruckenden Konzert.

Kirche von der besten Seite erfahren
Dennoch – oder gerade deswegen – erlebe ich aber in unserer Kirchgemeinde: Zentrum des Gemeindelebens bleibt der Gottesdienst. Kirche lässt sich dort immer wieder von der besten Seite erfahren – auch von kirchendistanzierten Person.

Gottesdienst als Lustkiller

Reservation

Eskalierende Identitätskrise

 

Wer bin ich überhaupt? Wozu bin ich auf und in dieser Welt? Aha, werden einige Schlaue nun denken. Den hat es erwischt. Klarer Fall. Midlife-Crisis. Der hat sicher schon alles erreicht im Leben und nun die grosse Leere. Schöne Frau, topgescheite und gutgelungene Kinder, grosse Villa, Superjob im Finanzbereich und für den Rest des Lebens ausgesorgt.

Alles erreicht?

Zwar eine naheliegende Beurteilung, aber sicher falsch. Jedenfalls in einzelnen Punkten. Erstens bin ich schon fleissig daran, dem eigentlichen Krisen-Zielpublikum altersmässig zu entfliehen. Dann liegt zweitens für mich die Midlife-Crisis-Problemlösung schon seit einigen Jahren pfannenfertig bereit. Erprobt durch einige meiner mittelalterlichen und männlichen Kollegen und Freunde: Da muss ein richtiger Töff her. Nicht einfach ein Motorrad – und sicher kein Roller. Nein, eine funkelnde, kraftstrotzende Maschine im vierstelligen Kubikbereich. Da wäre man wieder jemand, nach dem sich alle umdrehen würden, auf den man mindestens selber stolz sein könnte.

Mein Doppelgänger Walti

Aber drittens ist das Problem viel komplizierter. Es reicht nicht, dass ich schon seit Jahren regelmässig mit meinem Doppelgänger – nennen wir ihn Walti – verwechselt werde. Manchmal ist die Verwechslung offensichtlich und ich kann sie im Ansatz sofort klären. Dann gibt es aber Leute, mit denen führe ich die interessantesten und engagiertesten Gespräche, bis ich plötzlich merke, die sprechen ja gar nicht mit mir. Die sprechen mit Walti. Aber auch damit habe ich in all den Jahren langsam aber sicher leben gelernt.

G-R-Ö-F-L-I-N

Genug ist aber genug. Bröblin oder Bräblin soll ich nun heissen. Dabei hat meine Frau am Telefon den Namen klar und deutlich artikuliert. G-R-Ö-F-L-I-N. G wie Gustav, R wie Radrennen, Ö wie Öffentlicher Verkehr, F wie Fritz, L, I, N. GGRRÖÖÖFFLIN! „Alles klar“, tönte es am anderen Ende der Leitung. „Der Tisch wird reserviert. Bis morgen, Frau Bröblin“.

Einen gewissen Stolz darf man haben

Gräflein, Gräflin, Wölflin, Gröslin, Rösslin, Rösli. Mit all diesen Namen lebe ich schon lange und gut. Aber nicht BRÖBLIN! Man darf doch noch einen gewissen Stolz haben.

Einfach Peter

Wenn schon niemand meinen Familiennamen erkennen oder sich merken kann, dann nehmt doch wenigstens den richtigen Vornamen. Einfach Peter. Sicher schon mal gehört. Peter, der Universal-Männervorname aus den 50er- und 60er-Jahren. So heissen alle mit natürlicher Glatze oder grauen Haaren. Wobei, wenn ich mir das so richtig überlege, ist das eine wirkliche Lebensperspektive?

Ausweg aus der Krise

Leben mit einem Vornamen, wie ihn jeder Mann in meinem Alter trägt, und einem Familiennamen, den alle entweder nie verstehen oder sofort wieder vergessen. Wird mich das aus meiner Identitätskrise führen?

Nein, kaum. Dann nennt mich doch lieber Walti Bröblin.