So Gedanken

Manchmal übertreibt es die Jugend

S3

Auch mir ist es aufgefallen: Ich schreibe schon wieder übers Alter. Nicht, dass ich persönlich ein Problem damit hätte. Alle werden älter – vermutlich auch ich. Mit welcher Heftigkeit die Alterskeule aber zuschlug, überraschte mich dann doch.

Kürzlich ist es wieder passiert. Der Feierabendzug stand zur Abfahrt bereit. Auch ich hatte meinen Sitzplatz erobert und konnte die Stehplätze andern überlassen. Da stieg auf den letzten Drücker noch ein älterer Mann ein. Ausser Atem von seiner Hetzerei wankte er von Abteil zu Abteil im nun fahrenden Zug langsam auf mich zu. „Es wäre doch nicht mehr als anständig, wenn ihm jemand seinen Sitzplatz anbieten würde“, war mein Gedanke. Sicher das Beste für diesen Betagten und nebenbei auch eine gute Lösung für mich. So würde mir das Dilemma erspart: Anständig sein, den Laptop auf dem Schoss versorgen und aufstehen oder ganz konzentriert in den Bildschirm starren und unanständig unglücklicherweise von allem um mich nichts mitbekommen.

Ich entschied mich für Variante 2

Das Dilemma blieb mir nicht erspart und ich muss leider gestehen, dass ich mich für Variante 2 entschied. Aus meinen Augenwinkeln heraus, sah ich ihn näher und näher kommen – und an mir vorbeigehen, immerhin ohne hilfesuchende Blicke auszusenden, die mein Gewissen noch zusätzlich belastet hätten. Ich hatte es wieder einmal geschafft! Bequem konnte ich mich weiter meinem Laptop widmen. Doch dann die überraschende Wende: Eine junge Frau, die den Mann hatte vorbeigehen sehen, erhob sich und rief ihm nach, ob er nicht sitzen wolle. Als er nicht reagierte, ging sie ihm sogar ein paar Schritte nach und bot ihm den Platz nochmals an.

Der Senior lehnte ab und lehnte nochmals ab. Die ganze Freundlichkeit dieser Frau verpuffte an der Abwehr des Mannes. Ich schüttelte innerlich den Kopf und dachte mir: „Da zeigt sich die heutige Jugend von ihrer besten Seite und dieser Alte kann nicht über seinen Schatten springen und einfach dankend die freundliche Geste annehmen.“

Sportlich, dynamisch und im besten Alter

Ein paar Tage später war bei mir wieder einmal ein Dauerlauf durch den Basler Bahnhof angesagt. Es galt, den Feierabendzug noch zu erwischen. Kein Problem für einen sportlichen und dynamischen Mann im besten Alter, wie ich es bin. Die S3 war wie meistens bis auf den letzten Platz besetzt. So quetschte ich mich in einen der übervollen Eingangsbereiche. Danach schob ich mich vorsichtig Schritt um Schritt ins Wageninnere. Glücklich, eine einigermassen ruhige Stelle gefunden zu haben, suchte ich nach meiner Lesebrille, um auf meinem Smartphone die abendlichen Neuigkeiten abzurufen.

Meine gefühlte Dynamik drang offenbar nicht so richtig nach aussen, denn eine Schülerin, die in ihren „Blick am Abend“ vertieft war, schaute auf, sprang auf und bot mir ihren Sitzplatz ohne zu zögern an. Ich – leicht irritiert – stammelte vor mich hin, dass ich nicht so alt sei, wie ich aussehe. Mein äusserst humorvoller Spruch drang aber nicht so richtig bis zu ihr durch. Sie stand schon im Gang und deutete mit Nachdruck auf den leeren Sitzplatz. Vermutlich hatte sie in einem Pro Senectute-Kurs gelernt, wie man störrischen Senioren zu ihrem Glück verhelfen kann.

Manchmal muss man auch Grösse zeigen

Ich kapitulierte und setzte mich. Auch so kann man Grösse zeigen. Man muss zu seinem scheinbaren Alter stehen – oder sagen wir besser – sitzen. Wobei, was heisst da scheinbares Alter? Die Schülerin hatte ganze Arbeit geleistet. Mit einem Mal fühlte ich mich auch so alt, wie ich nach ihrer Beurteilung aussehen musste.

Irgendjemand muss es der heutigen Jugend sagen, dass man es auch übertreiben kann mit diesem Anstand.