So Gedanken

Der Chef bin ich

Schwimmweste

Es gab mal die schöne Zeit, da meinten meine Kinder wirklich noch, dass ihr Vater der Grösste und der Stärkste sei. Er weiss alles, kann alles und hinter seinen breiten Schultern kann man sich verstecken. Mit seinen Bärenkräften schlägt er alle wilden Tiere und Feinde in die Flucht. Vielleicht gab es auch nur die schöne Zeit, in der der Vater meiner Kinder meinte, dass er in deren Augen der Grösste und der Stärkste sei…

Mein Geschäft
Während zu Hause mein Stern langsam am Verblassen war, konnte ich doch noch lange meinen Kindern das Bild vermitteln, dass ich im fernen Basel Tag für Tag etwas ganz Wichtiges mache. Anfänglich konnte ich sie noch zum Staunen bringen, wenn wir ab und zu mal mit dem Tram vom Bahnhof in die Stadt hinein fuhren und ich ihnen das mächtige, glänzende Verwaltungsgebäude – mein Geschäft – zeigen konnte.

Spätestens als sie mich anlässlich der sogenannten Zukunftstage zu und bei meiner Arbeit begleiten konnten, mussten sie merken, dass Vaters Geschäft ja nicht so ganz sein Geschäft und er dort auch nicht ganz der Grösste oder Wichtigste ist. In dieser Unmenge von Leuten, die da irgendetwas zu arbeiten schienen, gab es offenbar auch solche, die noch etwas mehr zu sagen hatten als der eigene Vater. Sie lernten meinen Chef kennen, sahen auch noch den Chef meines Chefs und erfuhren von mir, dass dieser Chef-Chef mindestens auch noch einen Chef-Chef hat.

Vermutlich verstanden sie nun besser, warum ihr Vater wenigstens im trauten Familienkreis noch den Anspruch auf den Chefposten erhob und meist das letzte Wort haben musste.

Stillstand bedeutet Rückschritt
All diese Erkenntnisse haben es trotzdem nicht wesentlich einfacher gemacht, daheim die Vorgänge in meinem Arbeitsumfeld verständlich erklären zu können. Es ist halt oft etwas kompliziert in einem Grossbetrieb. Stillstand bedeutet Rückschritt – heisst es. So müssen immer wieder neue Strategien festgelegt, Bereiche umstrukturiert, Abteilungen verschoben und Teams zusammengelegt werden. Chefinnen und Chefs werden neu eingestellt, befördert, entlassen, versetzt oder ausgetauscht. Im Rückblick entpuppt sich dann einiges, was gegen den drohenden Stillstand unternommen wurde, einfach als eine weitere kurze Episode in der Firmen- oder auch der eigenen Geschichte.

Dass ich die Veränderungen im Organigramm als betroffener Mitarbeiter mitbekomme und auch verstehe, ist oft schon eine Herausforderung. Diese Entwicklungen in der Firma aber meinen unbeteiligten Familienangehörigen zu erklären, so dass sie danach wissen wo, mit wem und für wen ich neu arbeite, ist noch viel schwieriger. So waren meine Erklärungskünste auch bei den letzten grösseren Veränderungen an meinem Arbeitsplatz wieder gefordert.

Nach all den Jahren habe ich da eine gewisse Routine. So konnte ich am abendlichen Familientisch mit ein paar kurzen Worten berichten, dass meine langjährige Chefin nun nicht mehr meine Chefin sei und mein ehemaliger Chef-Chef zu meinem Chef-Chef-Chef befördert wurde. Durch meinen kürzlich erfolgten internen Stellenwechsel sei er inzwischen nur noch mein ehemaliger Chef-Chef-Chef, da mein noch ehemaligerer Chef-Chef-Chef wieder zu meinem aktuellen Chef-Chef-Chef geworden sei.

Wir waren wieder alle auf dem gleichen Wissensstand. Fragen hatte niemand.

Komplexe Firmenorganisationen
Zugegeben: Es ist schwierig in komplexen Firmenorganisationen über alle Hierarchiestufen den Überblick zu behalten. So bekam ich vor einigen Jahren wieder einmal einen neuen Chef – also einen richtigen, einen Chef-Chef-Chef-Chef. Dieser machte vieles neu, einiges auch besser. Zu den neuen Ideen gehörte, sich selber zum Ausgangspunkt der betriebseigenen Hierarchieordnung zu machen. Das ging in etwa so: Er war XY. Die Stufe seiner direkt Untergebenen wurden dann zu XY-1, deren Untergebene zu XY-2. Ich brachte es so gerade noch zu einem XY-4. Nun war endlich alles irrtumsfrei eingeschachtelt. Im Universum von XY waren nicht alle so glücklich, leisteten aber auch als Minusbepunktete trotz nicht so schmeichelhafter Etikettierung weiterhin einen positiven Beitrag zum Firmenerfolg.

Dem Urheber dieses Systems blieb das leider langfristig verwehrt. Nach relativ kurzer Zeit musste er überrascht die Erfahrung machen, dass doch nicht alle ausser ihm ein Minus in ihrer Hierarchiestufe hatten. Es war nämlich XY+1, der eines Tages bekannt gab, dass man sich wegen sogenannten Differenzen im Führungsverständnis von XY trenne.

Vieles ist nur eine Episode
So war auch diese Firmen-Hierarchieordnung wie so vieles in meinem Berufsleben als eine Episode wieder verschwunden und schon fast vergessen.

Aber eben nur fast – ganz lässt mich diese Idee doch nicht los. Mit ihrer verblüffenden Einfachheit wäre das doch etwas für komplexe Familienorganisationen. So Organisationen, wie die bei uns daheim.

Ich werde sie bei unserem nächsten abendlichen Familientisch vorstellen – dass endlich wieder mal klar ist, wer der Grösste und der Stärkste ist. Frau und Kinder werden garantiert begeistert sein.